Book Launch_ Situational Dictionary

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Eigentlich sollten wir im Hier und Jetzt leben. Aber Situationen können sich plötzlich ändern und das Hier wird unmöglich, das Jetzt zu einem vorübergehenden Zustand zwischen Vergangenheit und Zukunft. So abrupte Veränderungen werden oftmals durch externe Ereignisse ausgelöst, auf die wir keinen Einfluss haben. Sie bringen die Lebenspläne durcheinander und zerstören soziale Bindungen. Dort wird das neue Hier, zusammen mit dem Gefühl, in eine Situation geworfen zu werden, die mit neuen Implikationen, Anforderungen und Regelwerken einhergeht. Ein solcher Neuanfang steht auf zerbrechlichen Fundamenten und hat einen offenen Ausgang. Oft scheint es jedoch keinen anderen Ausweg zu geben. Im Fahrwasser der sozialpolitischen Turbulenzen der letzten Jahre in der Türkei verlassen immer mehr Intellektuelle, Künstler*innen und Kulturschaffende ihre Heimat und kommen nach Berlin.

Geschichtenerzähler*innen wie Ceren Oykut und Mustafa Pancar sehen sich mit einem tiefen Einschnitt in ihrer künstlerischen Praxis konfrontiert. Kritisch und humorvoll zugleich hielten beide in Istanbul den Alltag der Stadt und ihrer Bewohner fest. Oykut in lebhaften Zeichnungen und Pancar in figurativen Ölmalereien. Aber wo bleibt in einem unbekannten Kontext, in dem die Sprache fremd ist und das soziale Leben noch nicht erschlossen, Raum für das Erzählen von Geschichten? Wenn die Geschichten von zu Hause verheerend sind und das neue Terrain noch erkundet werden muss, wo soll man anfangen? Nach einer Phase der „Sprachlosigkeit“ regenerieren Oykut und Pancar ihre künstlerische Sprache auf neue und unerwartete Weise.

Ausländer zu sein, kann mitunter situationsbedingt und sozial entfremdend sein. Im Zustand emotionaler Isolation und ohne gefestigte soziale Bindungen kann sich ein Raum für Introspektion und existentielle Reflexion öffnen, wie die Fotoserie von Ece Gökalp und in die filmischen Bildern von Ezgi Kılınçaslan zeigen. In ihrer Serie über zerbrochene Bäume aus den Berliner Wäldern konzentriert sich Gökalp darauf, mit der Kamera die melancholische Schönheit zu erfassen. Da sie sich wie in zwei Städten fühlt – zwei Hier zur gleichen Zeit – kombiniert sie diese Baumporträts mit Porträts von Menschen in Istanbul.

Kılınçaslan beschäftigt sich mit dem Tod und dem, was von einem bleibt, nachdem man gegangen ist – etwas Physisches, irgendwelche Abdrücke, Fußspuren oder vielleicht etwas anderes, das an die frühere körperliche Präsenz erinnert. Gleichzeitig wirft sie die Frage nach Identität auf, oder genauer gesagt, nach dem Übergang vom Leben zu seinem ultimativen Anderen, dem Tod, wo Identität keine Rolle mehr spielt. Vor diesem Hintergrund wird die Zugehörigkeit zu einer Nation, zu einer Religion, zu einer Kulturgruppe oder einem Geschlecht irrelevant und Identitätslosigkeit wird zu einer Bedingung und zur einzigen Möglichkeit, um sich mit anderen Menschen auf Augenhöhe zu treffen.

Die Video-Serie von Özlem Sarıyıldız ist von einer anderen Art von Selbstreflexion angetrieben. Auf Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen als jemand, der die Türkei aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahre kürzlich verlassen hat, befragte sie andere Neuankömmlinge zu ihren Gedanken und Erfahrungen. Diese Interviews verdichtete sie zu einer Collage von Migrationserfahrungen, in der unklar ist, wo eine Geschichte endet und eine andere beginnt.

In ihrem neuen Stück beschäftigt sich die Tänzerin Lerna Babikyan mit den Wurzeln, die Menschen in ihren Heimatländern entwickeln, aber auch mit solchen Wurzeln, die sie in neuen Ländern aufbauen. Ihr dichtes Netz von Referenzen ähnelt letztendlich einer Spirale – ein Symbol für große Konzepte wie Evolution, Leben, Bewusstsein und Schöpfung.

So viele Gründe es für den Umzug aus der Türkei nach Berlin gibt, und so vielfältig und persönlich die Erfahrungen in diesem Prozess der Umsiedlung auch sein mögen, im Kern dieses gegenwärtigen Übergangsprozesses im Leben so vieler zeigen sich auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Für Künstler*innen bedeutet dies auch einen nahezu unvermeidlichen Einschnitt in ihrer künstlerischen Praxis und manifestiert sich in ihren Arbeiten, die viele ihre “Berliner Werke” nennen.