Ezgi Kılınçaslan – „Du hättest beinah gelebt“

Ezgi Kılınçaslan – „Du hättest beinah gelebt“

Multimediale Installation
Ausstellungseröffnung: 02.11.2018 | 19 Uhr
Ausstellungsdauer: 02.11. – 25.11.2018

„Wir waren genau wie ihr“, sagen sie. „Du wirst auf keine der Fragen eine Antwort erhalten. Was wahr ist, ist die Sehnsucht in dir. Versuche, sie aufrecht zu halten.“

Weder Vergangenheit noch Zukunft, weder Leben noch Tod …Gelegentlich im Dazwischen verweilen, weder vor noch zurück, sondern sich immer nach dem anderen sehnen …
Orpheus war die erste lebendige Seele, die in das Reich der Toten gegangen war und von dort zurückkehrte.

Nachdem er seine Geliebte Eurydike verloren hatte, war seine Klage so aufrichtig, dass Hades Mitleid mit ihm hatte und ihm eine Chance gab. Unter einer Bedingung: Er würde sich gedulden müssen; er durfte das Gesicht seiner Geliebten nicht sehen, bevor beide Geister aus der Unterwelt gestiegen waren. Orpheus akzeptierte diese Bedingung, aber er konnte sich nicht zurückhalten. In dem Moment, als er die Schwelle überschritt, blickte er zurück, und das war der Moment, als er Eurydike noch einmal und für immer verlor.

Orpheus’ Drama endete damit jedoch nicht. Die Leere, die durch seinen Verlust entstanden war, wurde tiefer und zog ihn immer weiter hinein. Was nach dem Tode bleibt sind die Erinnerungen an die Vergangenheit, verbunden mit einer tiefgreifenden Leere. Die Erinnerungen, die in der Leere treiben, Gefühle, die nicht vergegenständlicht werden können. Vergangene Erinnerungen sind weder wirklich noch unwirklich. Die Bilder, die aus der Vergangenheit hervorkommen, sind Spiegelungen dessen, was nicht mehr ist.

Die Erinnerung ist ein Bild, und das, woran man sich erinnert, ist eine Spiegelung dieses Bildes. Genauso wie die Form, die als Reflektion auf das Wasser fällt, nicht gehalten werden kann. Wenn das Wasser kleine Wellen schlägt, verschwimmt das Bild – es ist zwar fühlbar, aber es ist nicht wahrnehmbar. Ezgi Kılınçaslan teilt mit den Besuchern ihre Gedanken und Emotionen über den Zustand des Dazwischenseins in ihrer Ausstellung „You would have lived“ / ‘‘Du Hättest beinah gelebt’’ als Teil von situational dictionary:NOW.

„You would have lived“ basiert auf einem Video der Künstlerin. Sie begegnete Elizabeth 2008 in Tripolis und entwickelte eine sehr innige, ja fast familiäre Beziehung zu ihr. Durch ihre gemeinsame Sprache erzählte Elizabeth Kılınçaslan ihre Geschichte und Kılınçaslan war von ihrer schillernden und einnehmenden Persönlichkeit sehr beeindruckt. Elisabeth entkam als Kind mit ihrer Familie dem Völkermord und floh von Adana in den Libanon. Sie sehnte sich nach Adana und wollte die Stadt sehen, die ihr noch immer als Heimat galt. Dies bildete die Grundlage für das Projekt „Grandmothers“ und für die im Jahr 2011 im Rahmen der Arbeit geplante Reise in die Türkei. Elizabeth wurde kurz vor der Realisierung des Projekts barbarisch getötet; die Reise fand in ihrer Abwesenheit statt. Die Künstlerin konzentrierte sich auf ihr Oral History Projekt zum Völkermord an den Armeniern, das sie mit Elisabeth begonnen hatte. Sie interviewte viele Menschen aus verschiedenen Ländern, aber sie fühlte immer, dass etwas fehlte; sie spricht über das Gefühl der Leere, die durch das „sekundäre Erleben einer Zeugenschaft“ entstanden war. Ein Zeuge ist nie das Subjekt; das Subjekt des Vorfalls zu sein bedeutet, den Tod zu erleben, der die Folge des Vorfalls ist. Somit ist jeder Zeuge ein lückenhaftes, unvollständiges Subjekt. Die Künstlerin ist Zeugin der Zeugenschaft in ihrem Oral History Projekt und diese Lücke ist immer spürbar. Ausgehend von diesem Gefühl ist dieser Zustand des Dazwischen-Seins, des Auf-der-Schwelle-Seins ihr Thema. Dazwischen zu sein bedeutet eigentlich nirgendwo hinzugehören, gleich einer Maus, deren Abdruck auf dem Asphalt kaum eine Spur hinterlässt. Diese Maus ist weder da noch ist sie nicht da. Die greifbare Form, nirgendwo zu sein, nicht gehen zu können, nicht zurückbleiben zu können.
Diese Spur auf dem Asphalt entspricht den Spuren von Erinnerungen, die man sich wieder ins Bewusstsein rufen kann. Erinnerungen verwandeln sich in Gefühle, die nicht greifbar werden, die nicht in der Lage sind, Objekte zu werden. Diese Gefühle, die keine Objekte sein können, spiegeln sich in den Zeichnungen der Künstlerin und in ihren experimentellen Arbeiten mit Nägeln und Spiegeln wider. Der Spiegel als zweiseitiges Medium ist ein starkes Bild, um die Vorstellung von der Schwelle darzustellen.
Das Subjekt vor dem Spiegel sieht sich selbst im Spiegel und unweigerlich entsteht die Idee, durch den Spiegel auf die andere Seite gelangen zu wollen. Während sich das Motiv auf dieser Seite befindet, befindet sich ihr Bild auf der anderen Seite. Kılınçaslan’s Spiegel werden durch Nägel aufgebrochen, die auf die andere Seite dringen wollen. Der Spiegel, der nicht zulässt, dass etwas auf die andere Seite des Bildes gelangt, wird durch das widerstrebende Objekt fragmentiert. Der Spiegel kann dem Widerstand nicht standhalten. Allerdings liegt es in der Natur des Nagels, auf die andere Seite zu gelangen. Während einige von ihnen hier bleiben und weiter bestehen, gehen andere auf die andere Seite über und werden unsichtbar, ihre Präsenz auf dieser Seite wird unsichtbar. Könnten die Nägel sowohl hier als auch dort sein?

An der Schwelle zu stehen, sich in einer Übergangsphase zu befinden, ist ein seltsames Gefühl, ein Symptom von Veränderung, die Unsicherheit, nicht zu wissen, was zu erwarten ist. Akzeptiert oder ausgeschlossen zu sein.
Das Erreichen der Schwelle ist ein Zeichen der Veränderung, die Wahrnehmung ändert sich, wenn die Schwelle überschritten wird. Wenn die Schmerzgrenze überschritten wird, wird der Schmerz gedämpft. Sobald die Schwelle überschritten ist, wird der Schmerz zum Vergnügen. Es ist immer ein Zustand des Mangels. In seinem Buch “Beş Şehir [Fünf Städte]” spricht Ahmet Hamdi Tanpınar über diese Leere, die ein Mensch in sich trägt, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der Raum, der durch das Verlorene, das Verbliebene in der Vergangenheit gelassen wird, ist auch eine Leere, die den Rest in sich hineinzieht.

„Wir lieben diese alten Dinge sicherlich nicht um ihrer selbst willen. Es ist die Leere, die sie hinterlassen haben, die uns zu ihnen zieht. Es spielt keine Rolle, ob sie eine Spur hinterlassen oder nicht, wir betrachten sie als Teil von uns, von dem wir geglaubt hatten, dass er durch unsere inneren Kämpfe verloren gegangen wäre.“

Während die Künstlerin auf der einen Wand auf die Leere verweist, die Tanpınar in Versuchung führt, antwortet der rumänisch-deutsche Dichter Paul Celan auf Tanpınar mit seinem Gedicht „Stumme Herbstgerüche“. Während Tanpınar die unwiderstehliche Leere ausdrückt, in die er hineingezogen wird, verweist Celan auf einen völlig unbekannten Zustand des Verlorenseins, der niemandem gehört. Weder wirklich noch unwirklich, weder ein Wesen noch ein Nichtwesen, nur ein Gefühl, das nicht greifbar werden kann. „[…] du hättest beinah gelebt.“ (Paul Celan)

Ezgi Kılınçaslan’s “You would have lived” ist ein
poetischer ästhetischer Ausdruck dieses Zustands an der Schwelle, in dem man zwischen der Sehnsucht nach der Vergangenheit und der Ambiguität der Zukunft feststeckt.